Zwischen Eros und Thanatos.
Fotografische Entdeckungen auf europäischen Friedhöfen
von Roland Krawulsky
Wir schreiben das Jahr 2014: Ich befinde mich in Lissabon, habe einen Reiseführer aus dem Michael Müller Verlag aufgeschlagen und stehe – eher zufällig – vor dem British Cemetery, auch Cemitério dos Ingleses genannt. »Inmitten von Palmen, Linden und Zypressen beerdigt die britische Gemeinde Lissabons hier seit 1656 ihre Toten … Der mittelgroße Friedhof macht mit seinen verwilderten Beeten einen leicht verwunschenen Eindruck« lese ich — und: »Man sollte sich einen guten Grund einfallen lassen, warum man den Friedhof besichtigen will, sonst riskiert man, von der älteren Friedhofswärterin nicht eingelassen zu werden.«1
Nun, der gute Grund entfällt gerade, das Tor steht sperrangelweit auf. Die morbide, düstere Atmosphäre, begünstigt durch den heute mal ausnahmsweise bedeckten Himmel, nimmt mich sofort gefangen.
01 Memento Mori
Rückblende: Bereits 2009 und 2012 hatte ich mich in Buchpublikationen zum Dessau-Wörlitzer Gartenreich bzw. zu den Weimarer Klassik-Parks auszugsweise mit Grab- und Gedenksteinen beschäftigt. Doch das waren touristisch orientierte Bildbände gewesen und ich war entschlossen, die wohlaufbereitete, event-geschwängerte Welterbe-Erlebniswelt zu verlassen und mir fotografische Rückzugsgebiete zu erschließen.
Eine beiläufig wahrgenommene Buchrezension mit dem Titel »Die vergessenen Orte der Arbeit« katapultierte mich geradezu in eine neue Wahrnehmungswelt. Stillgelegte Industrieareale, aufgegebene Sanatorien, einstmals prunkvolle Paläste wurden nun ein willkommenes Tätigkeitsfeld.
02 Villa Chocolate
03 Teatro Campoamor
04 The Magic Eye
Mit dem Besuch des Ossuariums von Kutná Hora unweit von Prag stieg mein Interesse an Schädeln und Gebein sprunghaft. Die Knochenkirche zeigt sich als wahre Kathedrale des Todes, mit allem Zierwerk, das sich Freunde des Makabren nur wünschen können.
Um mich besser in den Background zu vertiefen las ich nun »Die Blumen des Bösen« von Charles Baudelaire sowie »Die Geschichte der Hässlichkeit« von Umberto Eco. Beide Werke erwiesen sich als wirkmächtige Initiationbücher und begründeten meine stetig wachsende Bibliothek des Makabren.
Die Fotografin Isolde Ohlbaum, die bereits in jungen Jahren Europas Friedhöfe durchstreift und vielfach publiziert hatte, lieferte mir als Erste regelrechte Steilvorlagen bei der Motivfindung. Anders als die Kollegin wollte ich die Bilder jedoch nicht in ihrem farbigen Urzustand belassen, sondern sie in sublime Farbtöne bzw. pures Schwarzweiss konvertieren. Über die Jahre sollte so ein möglichst umfassendes Portfolio aus einem stilistischen Guss entstehen.
So wundert es wahrscheinlich kaum, dass die Monumentalfriedhöfe Italiens ganz oben auf der Motivliste landeten, zunächst Genua, Mailand, Bergamo, Bologna — und der kleine, sehr spezielle Englische Friedhof in Florenz.
07 Tête-à-Tête
08 Danse Macabre
Hier, in Genua, liegen sich erstmals Eros und Thanatos innig in den Armen. Ganz im Freud’schen Sinne, denn 1920 postuliert dieser in >Jenseits des Lustprinzips< den fundamentalen Gegensatz zwischen dem Lebens- und Todestrieb. Während sich ersterer (Eros) liebend mit dem Anderen verbindet, zielt zweiterer (Thanatos) destruktiv auf den Tod. Laut Siegmund Freud sind beide Triebe immer miteinander vermischt. Damit wird auch die Ambivalenz erklärt, die zwischenmenschlichen Beziehungen innewohnt.
09 Sleeping Beauty
10 Dreaming
11 Sleeping Beauty II
12 Relentless Pursuit
13 Last Kiss
14 Transition II
15 Farewell II
Der grimmige Schnitter hatte mich bereits bei meinen Recherchen in seinen Bann gezogen. In Florenz auf dem Cimitero degli Inglesi beheimatet, sollte er unbedingt für mein Portfolio Modell stehen. Mit tatkräftiger Unterstützung von Antonella, meiner italienischen Gastgeberin, hatte ich tagsüber lange versucht, eine Fotoerlaubnis zu erwirken, bis das erhoffte Signal endlich eintraf: Schwester Julia, eine damals 79jährige Eremitin, die auf dem Friedhof lebt und sich um diesen kümmert, ist bereit, mich zu empfangen. Zur Abenddämmerung treffe ich am Bestimmungsort ein und klingle. Das schwere Eisentor öffnet sich automatisch – Julia begrüßt mich freundlich und führt mich persönlich dem Sensenmann vor.
Zum Abschluss meiner Arbeiten ist es bereits stockfinster. Ich packe meine Ausrüstung, um mich von Julia zu verabschieden. Doch Julia ist – auch nach lautem Rufen – unauffindabar, das Tor im hohen Zaun fest verriegelt. Das Office jedoch ist unverschlossen, ich taste mich durch alle Räume, vorbei an der schlichten Schlafstätte der Eremitin, um den Türöffner zu entdecken — und finde ihn!
Nun schnell die Sachen gefasst und ab ins Freie. Das Tor schließt gleich darauf wieder automatisch — der Grim Reaper scheint diabolisch zu grinsen…
Nach dem Umzug in meine jetzige Wahlheimatstadt Leipzig wagte ich mich bald an den Einstieg in den dortigen Kunstbetrieb und präsentierte einem breiten Publikum Arbeiten aus unterschiedlichen Schaffensperioden parallel zueinander. Die Friedhofsmotive, ursprünglich als A4-Prints aus dem Großlabor nur für die persönliche Ablage gedacht, erregten viel Aufmerksamkeit und führten zu intensiven Gesprächen. Das überraschte mich einigermaßen, denn vor besagter Friedhofserkundung in Lissabon hatte ich ein ziemlich distanziertes Verhältis zu solchen Orten.
Vor allem den weiblichen Skulpturen wurde eine hohe Lebendigkeit bescheinigt und immer wieder hinterfragt, ob ich ggf. mit lebenden Modellen gearbeitet hätte. Wer näher herantritt, bemerkt allerdings das Spiel, das ich mit dem Betrachter treibe. Denn gerade Friedhofsplastiken spüren selten oder nie die pflegenden Hände eines Restaurators. Und so ist die einst so sanfte Haut oft rissig geworden, von Flechten überzogen oder patinagrün. Und mit einem Schuss Hyperrealismus kann man diese Alterungserscheinungen noch betonen, statt sie – wie in der Modefotografie – wegzuretuschieren oder zu soften.
Die allermeisten »Trauernden« stammen aus der Zeit um 1900 und sind symbolistisch konnotiert. Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen findet mit Bezug auf Edgar Allen Poe, dass Trauer und Melancholie die »legitimsten poetischen Stimmungen« sind, »denn hier findet Schönheit ihren höchsten Ausdruck.«2
An dieser Stelle möge der österreichische Schriftsteller Peter Altenberg zu Wort kommen, der einst an die von ihm hochverehrte (und bereits mit 23 Jahren verstorbene) Theaterschauspielerin Annie Kalmar schrieb: »Die >schöne Frau< ist die vom Schöpfer in die Welt gesetzte Weckerin der Welt-Kräfte des Mannes! Sie allein bläst in die silberne Trompete und bringt die schlummernden trägen Seelen zum Erwachen und die Jericho-Mauern der Ruhe stürzen ein!! Daher ist nur die >schöne Frau< wirklich ein Gottes-Geschöpf, eine Segen-Spenderin, eine Heilige! Die Anderen hingegen suchen mit unzulänglichen Mitteln, des Geistes und des Herzens, die unersetzlichen einzig göttlichen Dinge der Schönheit dem blöden Manne entbehrlich zu machen.«3
Die Sozial- und Kulturhistorikerin Anna-Maria Götz, der ich vorangestelltes Zitat verdanke, hat sich in Ihrer Doktorarbeit weitgreifend und inspirierend mit der Symbolik der »Trauernden« beschäftigt. Diese wird »auf Grund ihrer manifestierten Passivität für die Wünsche und Erwartungen der Betrachtenden vollkommen verfügbar. Sowohl die unbelebte Materie der weiblichen Grabplastik als auch ihr Gestus als Wartende, Verharrende, >Trauernde< machten eine emotionale, begehrende Projektion und erhöhende Idealisierung verstärkt möglich, denn: Die unerreichbare Frau ist einer konkreten, leiblichen vorzuziehen, weil sie passiv ist. Zudem kann die unerreichbare, weil unbelebte und rein imaginierte Frau das Begehren potenzieren, indem sie der zeitlichen Vergänglichkeit enthoben wurde: >alle Lust will Ewigkeit – will tiefe, tiefe Ewigkeit!< [Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra] … die weibliche Grabplastik wurde als ideale Frau entsprechend ihrer zeitgenössischen Projektionsfähigkeit und Sinnstiftungen dargestellt. In Form eines Grabmonuments blieben in ihr die Vorstellungen, Praktiken und Gefühle all derjenigen versteinert, denen sie galt.«
19 Distinguished Lady
20 Mourning Beauty IV
21 Black Sun
22 Elegance II
23 Mourning Beauty VIII
24 Seduction in Stone
25 Lucid
26 Graceful II
27 Mourning Beauty XI
28 Mourning Beauty XII v2
29 Mourning Beauty XIII
30 The Beauty of L…
31 Melancholia
32 Just Follow Me
33 Elegance VII
34 Adoration
35 Elegance VIII
36 Femininity
Auf besonderes Interesse stößt meine Kollektion bei den Anhängern der so genannten »Schwarzen Szene«. Das Leipziger Wave Gotik Treffen hatte ich zunächst innerlich eher als Folklore-Veranstaltung bewertet, wenn es mir auch immer wieder den einen oder anderen Augenschmaus bot. Bei inzwischen zahlreichen Gesprächen anlässlich meiner Präsentationen auf dem Leipziger Südfriedhof kristallisierte sich dann jedoch eine erstaunliche »Wahlverwandschaft« heraus.
Jürgen Tabor schreibt in »L'art macabre« hierzu: »Die Subkultur der Goths steht zwar am Rande der Gesellschaft, als postmaterialistische Gegenbewegung ist sie wie andere Gegenkulturen aber auch ein Kind unserer Zeit. Was die Gothic-Kultur von anderen Jugendrevolten und -bewegungen unterscheidet, ist, dass sich in ihr die Abkehr von der massennormierten Unterhaltung, von der Kälte der modernen Arbeitprozesse und das Streben nach einer davon abgekoppelten >heißen< Emotionalität mit dem Lustprinzip der Düsternis kurzschließt – und das nicht als individuelle neurotische Reaktion, sondern als ein kollektiver Gestus von Negation und Lustumkehr … während Punk vorwiegend den Negationsakt selbst absolut setzt und kultiviert, transformiert Gothic die Ablehnungshaltung in eine Affirmation der Schönheit des Düsteren. Die subkulturelle Inkorporation des Todes, sein Zerfließen in einer alles durchziehenden Ästhetik der Düsternis, hat in diesem Sinne keineswegs eine allgemeine Todessehnsucht zur Ursache, noch ist sie eine Folge aufklärerisch-objektivierender Absichten, vielmehr hat sich mit ihr eine temporäre autonome Zone herausgebildet.«4
Und Andrea Schilz bringt es (in einem weiteren Beitrag) auf den Punkt und spricht von »Melancholie als Verweigerung gegenüber massenmedial suggerierter Lebensfreude«.5
Nach so viel theoretischem Überbau möchte ich nun unserem geneigten Freundeskreis die Bruderschaft der Dunkelheit nicht länger vorenthalten:
37 Grim Reaper II
38 Grim Reaper IV
39 Grim Reaper V
40 Grim Reaper VI
41 Waiting for Clients
42 Grim Reaper VIII
43 Theodosius
44 Grim Reaper XII
45 Memento Mori VIII
46 Grim Reaper XIV
Daneben finden sich auch immer wieder hochwillkommene Motive, in denen sich die ganze Dramatik menschlicher Existenz sublimiert:
47 Missing You
48 Expulsion from Paradise
49 Scene from a Marriage
50 Kiss of Death
51 Nocturne
52 No Comeback
53 Skyward
54 Farewell III
55 The Executor
Das Abschlussbild zeigt ein Motiv vom Kerepesi temetö in Budapest. Vom Heft des martialischen Schwertes abwärts denke man sich eine riesige, bis zum Erdboden reichende, Klinge, davor einen hingestreckten Kriegerleib — Baudelaires Worte besänftigen unser Entsetzen und geben uns gleichzeitig Halt:
»Nur die Starken berauschen an den Reizen des Grauens sich!«6
1 Johannes Beck: Lissabon & Umgebung, Erlangen 2012
2 Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, Würzburg 2004
3 Anna-Maria Götz: Die Trauernde, Köln 2013
4 Jürgen Tabor: Todessehnsucht oder autonome Zone? – Zur performativen Kultur der Gothic-Szene, in: L'art macabre, 10. Jahrgang, 2009, S. 173–188
5 Andrea Schilz: Gothic – Spiel mit dem Tod, in: L'art macabre, 7. Jahrgang, 2006, S. 137–148
6 Charles Baudelaire: Totentanz, in: Die Blumen des Bösen / Les Fleurs du Mal. Vollständige zweisprachige Ausgabe, München 2013